Chart of the Week | 01.03.2019

Ist die „Japanische Krankheit“ eine Gefahr für Europa?

6 min Lesedauer 01.03.2019

Diesen Monat feiert Japan die Volljährigkeit eines geschichtsträchtigen Kindes: Das Quantitative Easing-Programm (QE) der japanischen Zentralbank wird 18 Jahre alt. Geboren, um der sich ausbreitenden Deflation und dem negativen Wachstum entgegenzuwirken, entwickelte sich QE zu einer der meist angewandten Gegenmaßnahmen für die Bekämpfung der „Japanischen Krankheit“.

 

Die „Japanische Krankheit“ ist ein Leiden mit intensiv diskutierten Symptomen und noch viel intensiver diskutierten Ursachen. Seit den 1990ern kämpft Japan mit einer extrem ansteigenden Staatsschuldenquote sowie mit sehr niedrigen, teils negativen Inflations- und Wachstumsraten. Japans Staatschuldenquote ist auf bis zu 238% gestiegen, zwischen 1994 und 2012 kämpfte die japanische Zentralbank mit größtenteils negativen Inflationsraten und das nominale Bruttoinlandsprodukt lag 2014 auf etwa dem gleichen Level wie am Anfang der Krise im Jahr 1994. Ökonomische Horrornachrichten – die aber mehr und mehr an die Eurozone der letzten zehn Jahre erinnern. In Griechenland stieg die Staatschuldenquote nach der europäischen Finanzkrise auf bis zu 183%, Spanien befand sich zwischen 2014 und 2016 in einem deflationären Umfeld und Italien musste zwischen 2008 und 2013 mit überwiegend negativen Wachstumsraten kämpfen.

 

Auch die Ursprünge der „Japanischen Krankheit“ haben große Ähnlichkeiten mit denen der Eurokrise. 1992 erlebte Japan eine Finanzkrise, die aus einer Blasenbildung aufgrund von unrentablen Krediten, Anleihen und Unternehmen und einem relativ deregulierten Finanzmarkt hervorging. Eine ähnliche, wenn auch eine tiefgreifende Finanzkrise erlebte Europa (und die ganze Welt) im Jahre 2008, was eine gewisse Vergleichbarkeit vermuten lässt. Diese Beispiele und Anomalien werfen die Frage auf, ob eine Japanisierung Europas das unvermeidliche Zukunftsszenario darstellt.

 

Um eine mögliche Japanisierung Europas zu quantifizieren und zu visualisieren, haben wir in Anlehnung an Professor Takatoshi Ito der Columbia University ein Japanisierungsmodell erstellt, das die Hauptsymptome der japanischen Krankheit abbilden soll. Dabei werden das Wirtschaftswachstum in Form der Produktionslücke, Inflation, kurzzeitiger Zinssatz in Form des Leitzinses der jeweiligen Zentralbank, sowie der demografische Wandel berücksichtigt.

Sehen wir eine Japanisierung Europas?

Quelle: Thomson Reuters, World Bank, eigene Berechnungen

Der ideale Indexwert liegt in einem Korridor von etwa vier bis sechs, nimmt man eine Produktionslücke von null Prozent, eine angestrebte Inflation von zwei Prozent, einen kurzzeitigen Zinssatz von zwei Prozent bis vier Prozent und eine prozentuale Veränderung des Altenquotienten von null an. Je niedriger der Indexwert, desto größer ist die Gefahr der „Japanischen Krankheit“.

 

Seit 1992 liegt der Index für Japan im roten, negativen Bereich, wie unser Chart der Woche zeigt. Es ist auffällig, dass Japan zwischen 1992 und 2017 in allen vier Kategorien deutlich schlechtere Werte als die Eurozone und Deutschland aufweist. Der Mittelwert der Produktionslücke liegt bei -1,4% (Europa -0,4% und Deutschland -0,1%), der Mittelwert der Inflation bei 0,3% (Europa 1,9% und Deutschland 1,7%) und der Mittelwert der Leitzinssätze bei 0,5% (Europa 2,5% und Deutschland 2,5%). Der Mittelwert der prozentualen Veränderung des Altenquotienten liegt bei 3,7% (Europa 1,6%  und Deutschland 1,6%).

 

Betrachtet man allerdings nur den Zeitraum der letzten fünf Jahre zwischen 2013 und 2017, ergibt sich zumindest für Europa ein anderes Bild. Der Verlauf des Graphen lässt deutlich an eine Annäherung Japans und Europa schließen. Und seit 2012 liegen Europas Indexwerte stets im negativen Bereich. Die Mittelwerte der vier Kategorien liegen teilweise nur noch marginal auseinander. Der Durchschnitt der Produktionslücke liegt in Japan bei -1,9%,  in Europa bei -1,6%. Der Mittelwert der Inflation liegt in Japan bei 0,9%, in Europa bei 0,7% und der Durchschnitt der Leitzinssätze liegt in Japan bei 0,03% und in Europa bei 0,15%. Lediglich die Veränderung des Altenquotienten verläuft in Japan in einem deutlich schnelleren Tempo (3,5%) als in Europa (2%).

 

Hat sich Europa also mit der „Japanischen Krankheit“ infiziert und zeigt nur leicht veränderte Symptome?

Die prägnante Antwort auf diese Frage lautet wohl „Jein“! Denn auch wenn zweifelsohne viele Gemeinsamkeiten bestehen, sind die ökonomischen Zusammenhänge und die finanzpolitischen Reaktionen durchaus zu unterscheiden. Japan befand sich in einer Deflationsspirale, da zu spät und zu zögerlich auf die fallenden Preise reagiert wurde. Aufgrund der Null-Prozent-Grenze für nominale Zinssätze verursachte die Deflation in Japan positive reale Zinsen, sodass kein Anreiz für Konsum bestand, was sich negativ auf die Inflation und das Wirtschaftswachstum auswirkte und die Langwierigkeit der „verlorenen zwei Jahrzehnte“ Japans begründet. Europa hat dieses Problem zurzeit nicht. Und auch wenn die Produktionslücke in den letzten 10 Jahren in Europa größer ist als in Japan in den 1990ern, schließt sie sich deutlich schneller und ist sogar letztes Jahr positiv ausgefallen (0,3%).

 

Auch demographische und strukturelle Faktoren haben (bisher) in Japan einen deutlich größeren Einfluss als in Europa. Der Altenquotient Japans nimmt in einem dramatischen Tempo zu. Durch die Verschiebung der Alterspyramide fühlen sich Menschen genötigt mehr zu sparen und weniger zu konsumieren, um für die Altersvorsorge vorbereitet zu sein. Auch eine steigende Ungleichheit in den Einkommen führt zu diesem Verhalten, wodurch das Erreichen des Inflationsziels und der potentiellen Produktion erschwert wird. Europa und Japan werden in Zukunft weiterhin mit diesen Problemen zu kämpfen haben. Die Alterspyramide wird sich weiter nach oben verschieben und die finanzielle und soziale Ungleichheit wird nach Prognosen der Europäischen Union und OECD auch in Zukunft zunehmen.

 

Europa hat sich also nicht vollständig mit der „Japanischen Krankheit“ infiziert: Rechtzeitig wurden Maßnahmen der Europäischen Zentralbank getroffen, um nicht in eine Deflationsspirale zu versinken. Außerdem verläuft der demographische Wandel nicht in dem Tempo und Ausmaß, mit dem Japan zu kämpfen hat. Immigration ist stärker ausgeprägt in Europa als in Japan. Weiterhin ist die Eurozone als Währungsunion und die Europäische Union als politische Wertegemeinschaft in vielen Bereichen nicht mit den Eigenschaften Japans (z.B. soziale Kohäsion, konservatives Wahlverhalten, Identifikation) zu vergleichen. Auch wenn es aktuell viele Parallelen zwischen Japans „verlorenen zwei Jahrzehnten“ und Europas Zeit nach der Finanzkrise gibt, so kann man in Europa doch maximal von einer „Japanisierung light“ sprechen.

 

Und wir wollen festhalten, dass eine Japanisierung Europas nicht nur negative Seiten hätte. Allen ökonomischen Katastrophenkennzahlen zum Trotz geht es Japan in vielen Bereichen sehr gut: Laut OECD Better Life Index ist Japan im Bereich Schülerleistungen, Lebenserwartung und Arbeitssicherheit an der Spitze und überdurchschnittlich in den Bereichen Beschäftigung, Einkommen und allgemeine Sicherheit. Inflation und Wachstum sollten nicht als einzige Indikatoren zur Bewertung des Wohlbefindens einer Volkswirtschaft dienen und wir sollten gewarnt sein, dass finanz- und fiskalpolitische Anreize niemals zur Blasenbildung führen dürfen – denn letztendlich ist es auch das, was Japans „verlorene zwei Jahrzehnte“ und Europas letzte zehn Jahre eint: Die Folgen einer (vermeidbaren) Finanzkrise.      

Autor: Marcel Albers