Mindestlohn und Beschäftigung – ein Spannungsverhältnis?
Chart of the Week
Der „Preis der Schwedischen Nationalbank in Wirtschaftswissenschaft in Erinnerung an Alfred Nobel“ – so benannt, weil es keiner der ursprünglichen, von Alfred Nobel selbst gestifteten Preise in den Gebieten Chemie, Physik, Medizin, Literatur und Friedensbemühungen ist – wurde kürzlich an drei Ökonomen verliehen, darunter der US-Amerikaner David Card „für seine empirischen Beiträge zur Arbeitsökonomie“.
Die Volkswirtschaftslehre leidet darunter, dass sie im Gegensatz zu den Naturwissenschaften keine kontrollierten Experimente durchführen kann. Beim Testen eines neuen Medikaments wird dieses an die Probanden der Experimentalgruppe verabreicht, während die Kontrollgruppe ein wirkstofffreies Placebo erhält. Man kann aber schlecht einer Hälfte einer Volkswirtschaft beispielsweise den Handel mit dem Ausland erlauben und ihn gleichzeitig der anderen Hälfte als Kontrollgruppe verbieten, um anschließend die unterschiedlichen Auswirkungen zu untersuchen.
Card konzentrierte sich darauf, sogenannte „natürliche Experimente“ zu identifizieren – also Situationen, in denen sich ansonsten vergleichbare Bedingungen zwischen Gruppen nur in Details unterscheiden. Beobachtete unterschiedliche Entwicklungen können dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Unterschiede in den Ausgangsbedingungen zurückgeführt werden. Eine seiner bekanntesten Arbeiten untersuchte dabei den Einfluss des Mindestlohns auf die Beschäftigung in zwei benachbarten US-Bundesstaaten. Obwohl im Jahre 1992 in New Jersey der gesetzliche Mindestlohn angehoben wurde und in Pennsylvania nicht, entwickelte sich die Beschäftigung in beiden Staaten in der Folge quasi gleich. Nach den klassischen Modellen der VWL hätte die Anhebung des Mindestlohns die Beschäftigungschancen in New Jersey verschlechtern müssen, weil sich manche Firmen die nun teureren Arbeitskräfte nicht mehr hätten leisten können.
Cards Ergebnisse wurden auch in die hiesige Diskussion um die Einführung bzw. spätere Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns eingebracht. Allerdings gab und gibt es auch Stimmen, die die Übertragbarkeit seiner Studie auf deutsche Verhältnisse in Frage stellen – so lag beispielsweise der von 4,25 auf 5,05 US-Dollar pro Stunde erhöhte Mindestlohn in New Jersey nicht einmal bei der Hälfte der 12 Euro, die derzeit als Vorhaben im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP stehen.
Lohn- und Beschäftigungsentwicklung: Unterschied zwischen stärker und weniger stark von der Mindestlohneinführung betroffenen Landkreisen, 2011-2016
Befürworter des Mindestlohns bekommen nun aber neue Argumente: Ökonomen des University College London und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit untersuchten die Effekte der erstmaligen Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland im Jahre 2015 – bis dahin hatten immerhin 15 Prozent der deutschen Arbeitnehmer zu niedrigeren Stundenlöhnen gearbeitet. Neben der Entwicklung von Lohn und Beschäftigungsstatus individueller Arbeitnehmer aus verschiedenen Lohngruppen betrachteten sie auch die 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte, die aufgrund unterschiedlich hoher bestehender Lohnniveaus unterschiedlich stark von der Mindestlohneinführung betroffen waren.
Unser Chart der Woche zeigt die Unterschiede in der Entwicklung zwischen stark und weniger stark betroffenen Kreisen zum einen für das Lohnwachstum, zum anderen für die Beschäftigungsentwicklung. Wie zu erwarten war, zeigen Kreise mit zuvor eher niedrigem Lohnniveau mit der Mindestlohneinführung ein deutlich stärkeres Lohnwachstum als die Kreise, in denen zuvor schon besser verdient wurde. In der Beschäftigungsentwicklung lassen sich hingegen kaum Unterschiede feststellen; allenfalls ist auch hier ein leicht positiver Effekt für die stärker betroffenen Kreise zu beobachten. Die Autoren der Studie führen dies auf Konzentrationsprozesse zurück: Dort erhöhten sich Produktivität und durchschnittliche Betriebsgröße stärker als in den weniger betroffenen Kreisen – ein Anzeichen dafür, dass Arbeitnehmer zu Firmen wechselten, die aufgrund höherer Produktivität die höheren Löhne leichter zahlen konnten und auch stabilere Beschäftigungsaussichten boten.
Aber auch mit dieser Studie ist natürlich das letzte Wort in Sachen Mindestlohn noch nicht gesprochen. Warten wir zunächst einmal ab, ob die laut der Sondierungsgespräche angepeilten 12 Euro tatsächlich ihren Weg in die Gesetzesform finden – und wenn das passiert, wird es in der Folge auch dazu sicherlich wieder detaillierte Untersuchungen der Auswirkungen geben.