Gefühlssache
Chart of the Week
Bei 5,2 Prozent dürfte laut der jüngsten Schnellschätzung des Statistischen Bundesamts die Inflationsrate im November 2021 gelegen haben. Seit Mitte des Jahres gehen die Verbraucherpreise in Deutschland durch die Decke. Eine Fünf vor dem Komma gab es zuletzt im Jahr 1992; auch der Rekordwert von 6,2 Prozent aus demselben Jahr scheint derzeit in Reichweite.
Aber auch wenn die aktuelle Preissteigerung natürlich ihre Kaufkraft beeinträchtigt, können manche Konsumenten der Situation etwas Positives abgewinnen: Sie fühlen sich bestätigt und erleben gerade einen Ich-habe-es-ja-schon-immer-gesagt-Moment. Die aktuell hohen Inflationsraten bilden endlich das ab, was ihrer Meinung nach schon lange Realität war; niedrigere Werte wie noch zu Jahresbeginn – oder gar negative wie im Jahr 2020 – seien womöglich manipuliert oder gingen zumindest an der Lebenswirklichkeit der Verbraucher vorbei.
Nun – wie unser Chart der Woche zeigt, haben sie sowohl recht als auch unrecht. Sie erleben das, was als gefühlte Inflation bezeichnet wird. Ähnlich wie beim Wetterbericht, der eine gefühlte Temperatur kennt, welche durch Aspekte wie Luftfeuchtigkeit oder Windstärke beeinflusst wird, können bestimmte Faktoren dafür sorgen, dass die Preissteigerung sehr viel stärker wahrgenommen wird, als die statistische Ermittlung belegt. Beispielsweise schätzten Verbraucher in einer Umfrage der Europäischen Kommission im 3. Quartal 2021 die Inflation in der Eurozone auf durchschnittlich rund 10 Prozent, während die tatschlichen Werte in den drei Monaten dieses Quartals bei 2,2, 3,0 und 3,4 Prozent lagen.
Verbraucherpreisinflation in Deutschland insgesamt und für Nahrungsmittel und Energie (Veränderung zum Vorjahresmonat in %)
Dabei spielt unter anderem eine Rolle, wie häufig den Verbrauchern bestimmte Preise im Alltag begegnen. Wer alle paar Tage die Tankstelle anfährt oder im Supermarkt für die Familie einkauft, dem sind die zuletzt stark gestiegenen Preise für Lebensmittel und Kraftstoff natürlich deutlich präsenter als beispielsweise die Wohnungsmiete, die in den meisten Fällen schon vor Jahren vertraglich vereinbart wurde und seitdem ohne eigenes Zutun monatlich vom Konto abgebucht wird.
Mit fast 20 Prozent ist aber die Nettokaltmiete der größte Einzelposten im sogenannten Wägungsschema des Statistischen Bundesamts und macht damit einen größeren Anteil aus als Nahrungsmittel und Energie zusammen. Zwar sind die Preise für Neuvermietungen gerade in den Großstädten in jüngerer Vergangenheit deutlich gestiegen. Da aber jedes Jahr nur ein geringer Teil der Menschen umzieht, leben die meisten Mieter schon seit längerer Zeit in ihrer Wohnung – und die Veränderung von Bestandsmieten fällt deutlich geringer aus. So bewegte sich die Preissteigerung für den größten Einzelposten im statistischen Warenkorb in den letzten Jahren lediglich um die 1,5-Prozent-Marke. Auch bei vielen anderen Gütern, die eher selten erworben werden, aber durch ihren Wert dennoch ein gewisses Gewicht im Wägungsschema besitzen, hält sich die Teuerung meist in Grenzen.
Nahrungsmittel- und Energiepreise haben aber noch eine andere Besonderheit: Sie schwanken stark. Deshalb werden sie bei der Einschätzung der Inflation oft von Ökonomen außer Acht gelassen, die lieber auf die sogenannte Kerninflation schauen. Diese Schwankungen haben zwei Effekte. Zum einen kommt es häufig zu Ausreißern nach oben wie nach unten, zum anderen fallen diese Ausreißer durch den sogenannten Basiseffekt oft besonders stark aus: Nach einem Jahr mit sehr niedrigen Preisen sorgt schon eine Normalisierung für einen deutlichen Preisanstieg – und der bleibt stärker in Erinnerung als die günstigen Preise zuvor.
So funktionieren wir Menschen nun einmal. Daher wird wohl weiterhin über die Teuerung debattiert werden, auch wenn sich die gemessene Inflation im Laufe des kommenden Jahres wieder auf niedrigeren Werten als derzeit einpendeln sollte.