Höhere Löhne allein machen nicht glücklich

Chart of the Week

4 min Lesedauer 25.02.2022

Der Arbeitsmarkt hat sich weitestgehend von der Corona-Pandemie erholt. Doch mit der Normalisierung des Arbeitsmarktes werden die strukturellen Schwierigkeiten wieder sichtbar: Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden. Aktuell wird versucht, der Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt vor allem mit Lohnerhöhungen zu begegnen – doch Lohnerhöhungen allein werden nicht reichen. Die strukturellen Lösungen für den Fachkräftemangel sind: Fachkräftemigration, Umschulung und Automatisierung.

Die Corona-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen, auch auf dem Arbeitsmarkt. Doch dank des umfangreichen Einsatzes von konjunktureller Kurzarbeit blieb der befürchtete Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland aus. Dafür herrscht dagegen am deutschen Arbeitsmarkt wieder eine Situation, die vor Ausbruch der Krise akut war: Fachkräftemangel. Trotz sinkender Arbeitslosigkeit steigt die Anzahl an ausgeschriebenen Stellen weiter. Im Januar dieses Jahres gab es so viele offene Stellen wie noch nie: 841.000 Stellen bleiben derzeit unbesetzt. Im Verhältnis zur Arbeitslosigkeit zeigt sich, dass der deutsche Arbeitsmarkt nun genauso angespannt ist, wie vor der Krise. Doch wie kann dem Fachkräftemangel begegnet werden?

Unserer Meinung nach gibt es dazu vier Möglichkeiten: Lohnerhöhungen, Umschulung, Migration und Automatisierung. Unsere Untersuchung zeigt, dass Lohnerhöhungen seit dem Ausbruch der Pandemie wieder zum Gegensteuern eingesetzt werden. Dieser Zusammenhang ist über alle betrachteten Wirtschaftsbereiche hinweg vorhanden, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Unser Chart of the Week zeigt, dass Lohnerhöhungen in der Industrie im Kampf gegen den Fachkräftemangel vor 2010 bereits ein probates Mittel waren, der Zusammenhang zwischen 2010 und 2020 allerdings nicht vorhanden war. Seit dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 scheint es jedoch, als seien Lohnerhöhungen als Mittel der Wahl zurück.

Fachkräftemangel führt in der Industrie wieder zu Lohnerhöhungen

Der Chart zeigt die Lohnentwicklung gegenüber dem Vorjahr und die Unternehmen, die angeben dass ein Mangel an Arbeitskraft die Produktion limitiere, in der Industrie.
Quelle: Europäische Kommission; Destatis; ING Economic & Financial Analysis

Trotz Lohnerhöhungen verschärfte sich der Fachkräftemangel zuletzt allerdings weiter. Ein Allheilmittel scheinen Lohnerhöhungen also nicht zu sein, um die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt zu heilen. Stattdessen dürfte die voranschreitende Automatisierung am Arbeitsmarkt dazu beitragen, dass der Fachkräftemangel sich zumindest in einigen Teilen der Wirtschaft relativiert. Rund 65 Prozent der Berufe mit fachlichen Anforderungen, für die der Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit zufolge im Jahr 2020 ein Engpass vorlag, weisen eine Automatisierungswahrscheinlichkeit von über 50 Prozent auf – hier könnte das Problem der offenen Stellen also durch Automatisierung zumindest teilweise gelöst werden.

Die Automatisierung am Arbeitsmarkt macht allerdings auch deutlich: Umschulungen werden immer wichtiger. Zum einen weisen auch Berufe, die keinem strukturellen Fachkräftemangel unterliegen, eine nicht unbedeutende Automatisierungswahrscheinlichkeit auf. In früheren Studien zeigten wir, dass besonders Aufgabenbereiche mit repetitivem Aufgabenfeld von der voranschreitenden Automatisierung am Arbeitsplatz betroffen sind. Zum anderen gilt es auch Arbeitssuchende umzuschulen. Denn Automatisierung und Digitalisierung schaffen auch neue Arbeitsplätze, die es in Zukunft zu besetzen gilt.

Trotz Lohnerhöhungen, Automatisierung und Umschulung wird sich der Fachkräftemangel in Deutschland in den kommenden Jahren jedoch erst einmal strukturell verschärfen, denn unabhängig von der Pandemie belastet der demographische Wandel den Arbeitsmarkt. Damit sich das Szenario einer nur leicht schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (bis 2060 rund 2 Millionen weniger Erwerbstätige) realisieren lässt, bedarf es einer jährlichen Nettozuwanderung von 300.000 fachlich ausgebildeten Personen. Idealerweise genau diejenigen, deren Profil mit dem aktuellen Fachkräftemangel übereinstimmt. Dabei muss nicht unbedingt nur auf Erwerbsmigration gesetzt werden – denn auch Asylsuchende, die in den vergangenen Jahren hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Deutschland kamen, bringen oftmals genau die Qualifikationen mit, die am deutschen Arbeitsmarkt aktuell fehlen.

Um dem Fachkräftemangel langfristig entgegenzuwirken, bedarf es dem gesamten Maßnahmen-Kaleidoskop: Lohnerhöhungen können helfen, um kurzfristig die Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot an Arbeitskraft zu relativieren, doch langfristig werden Umschulung, Fachkräftemigration und Automatisierung nötig sein, um dem demographischen Wandel am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Stellen oder Tätigkeiten, die der Mensch nicht ausführen möchte, können durch fortschrittliche Technologien besetzt werden.

Zum Download: Unsere Studie „Höhere Löhne allein machen nicht glücklich

Autor: Carsten Brzeski, Inga Fechner & Franziska Biehl