Zeitenwende
Chart of the Week
Die Entwicklungen rund um das, was sich mittlerweile zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine entwickelt hat, haben nicht nur zu einer geschlossen wie nie auftretenden EU, sondern auch zu einem Umdenken in der deutschen Politik geführt. Insbesondere was die Verteidigungspolitik betrifft, wurden wir in den vergangenen Tagen Zeuge einer 180-Grad-Wendung. Doch sind 180 Grad genug, um einen jahrelangen Investitionsstau aufzulösen?
Jährlich sollen die Nato-Mitgliedsstaaten 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Dieses Ziel wurde bereits im Jahr 2002 auf der Nato-Konferenz in Prag beschlossen, als Bulgarien, Rumänien, und die Slowakei eingeladen wurden, dem Bündnis beizutreten. Eine Bedingung für den Beitritt zum Verteidigungsbündnis war es, dass genügend Ressourcen in die Verteidigung investiert würden. Als Richtwert dafür wurden 2 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts festgelegt. Zeitgleich wurde beschlossen, dass auch jene Staaten, die dem Bündnis bereits angehörten, jährlich denselben Betrag für Verteidigungsausgaben aufbringen sollten. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde das 2-Prozent-Ziel auf dem Nato-Gipfel in Wales noch einmal bestätigt. Innerhalb der nächsten 10 Jahre sollten die Mitgliedsstaaten darauf hinarbeiten, sich auf den Richtwert von Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP zuzubewegen.
In den vergangenen Jahren stand Deutschland immer wieder in der Kritik das 2-Prozent-Ziel der Nato zu verfehlen. Unser Chart of the Week zeigt, dass Deutschlands Verteidigungsausgaben in den vergangenen 20 Jahren tatsächlich weit entfernt von 2 Prozent des BIP lagen. In jedem Jahr wurde durchschnittlich nur die Hälfte dessen in die Verteidigung investiert, was nötig gewesen wäre, um dem Richtwert der Nato zu entsprechen. Allerdings ist auch zu erkennen, dass die absoluten Verteidigungsausgaben seit der Annexion der Krim und dem Nato-Gipfel in Wales jährlich wuchsen.
Verteidigungsausgaben Deutschland pro Jahr & Differenz zum 2-%-Ziel der Nato
Zwar hat Deutschland die Verteidigungsausgaben zuletzt erhöht, von der Erreichung des 2-Prozent-Ziels war es allerdings weiterhin weit entfernt. Im Jahr 2020 wurden rund 37 Milliarden Euro, bzw. 1,1 Prozent des BIPs, für Verteidigung ausgegeben. Davon entfielen rund 90 Prozent auf die militärische Verteidigung, 6 Prozent auf Forschung und Entwicklung im Bereich Verteidigung, weitere 3 Prozent auf Militärhilfen für das Ausland und ein Prozent auf anderweitige Verteidigung. Um das Nato-Ziel zu erreichen, wären im Jahr 2020 Ausgaben in Höhe von rund 67 Mrd. Euro nötig gewesen. Seit dem Jahr 2002, als das gemeinsame Ziel zum ersten Mal auf den Tisch kam, hätte Deutschland insgesamt knapp 521 Mrd. Euro mehr für Verteidigung ausgeben müssen, um den Zielen der Nato gerecht zu werden.
Ein Investitionsstau, dem die Bundesregierung nun geschlossen entgegentritt. Was lange als undenkbar galt, wurde am vergangenen Wochenende beschlossen. Zusätzlich zu jährlichen Verteidigungsausgaben in Höhe von mindestens 2 Prozent des BIP, die von nun an eingeplant werden sollen, wurde für den Bundeshaushalt 2022 ein Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. Euro beschlossen, welches der Bundeswehr bereitgestellt werden soll. Damit sollen Investitionen in eine bessere Ausrüstung, mehr Personal und moderne Einsatzgeräte realisierbar gemacht werden. Dabei sind knapp 70 Prozent des Geldes für nationale Großprojekte und 30 Prozent für multinationale Rüstungsprojekte vorgesehen. Bei den nationalen Großprojekten fällt bereits das Auffüllen der Munitionsdepots schwer ins Gewicht: knapp 20 Mrd. Euro dürften auf diesen Posten entfallen. Der gleiche Betrag könnte für die Modernisierung der Luftstreitkräfte und neue Transporthubschrauber anfallen. Neben weiteren Projekten soll auch in die Digitalisierung investiert werden, hierfür sind knapp 3 Mrd. Euro vorgesehen. Insgesamt könnten 100 Mrd. Euro in diesem Fall also schnell aufgebraucht sein.
Die 100 Mrd. Euro reichen nicht aus, um den Investitionsstau der vergangenen Jahre auszugleichen, aber sie haben eine starke symbolische Wirkung. Sie signalisieren eine Koalition, die zu handeln bereit ist, auch wenn dazu von der eigenen politischen Position Abstand genommen werden muss, und sie signalisieren Unterstützung und Engagement für die Europäische Union und die Bündnisstaaten der Nato. Eine Geschlossenheit, die im aktuellen Umfeld mehr wert sein könnte als jedes Sondervermögen.