Ein Vierteljahrhundert mit Höhen und Tiefen

Chart of the Week

5 min Lesedauer 19.04.2024

Wenn die Europäische Zentralbank auf ihrer Ratssitzung im Juni wie erwartet eine Senkung der Leitzinsen beschließt, markiert das die Wende nach einer restriktiven Phase, die in der Geschichte der Währungsunion ihresgleichen sucht. Auf dem Kreuzzug gegen die Rekordinflation hatte die EZB zuvor ihrerseits einen Rekord aufgestellt und die Leitzinsen so schnell erhöht wie nie zuvor während ihres Bestehens.

Wer die Entwicklung von Inflation und Geldpolitik schon etwas länger beobachtet, kennt aber auch das andere Extrem: Preise, die vor allem während der 2010er Jahre einfach nicht so steigen wollten, wie es die EZB im Sinn hatte – obwohl sie Geld noch und nöcher in die Wirtschaft pumpte. Mit Blick auf das Inflationsziel von „nahe bei, aber unter 2 Prozent“ versuchte man damals im Frankfurter Ostend verzweifelt, irgendwo wenigstens ein kleines bisschen Inflation aufzutreiben und die Preissteigerungsrate etwas weiter von der Nulllinie wegzubewegen.

Denn Deflation, also fallende Preise, fürchten Zentralbanker wie der Teufel das Weihwasser: Wer davon ausgeht, dass er für sein Geld im nächsten Monat oder Jahr mehr bekommt als jetzt, wird versuchen, jede Ausgabe und jede Anschaffung so lange wie möglich hinauszuzögern – und das würde letztlich jede wirtschaftliche Aktivität abwürgen und womöglich eine Deflationsspirale einleiten. Besonders erfolgreich war die EZB bei diesem Versuch allerdings nicht: Auch wenn sie regelmäßig prognostizierte, dass die Preissteigerung schon bald wieder dauerhaft zum Zielwert zurückkehren werde, ließ diese sich nur ab und zu in der Nähe der 2-Prozent-Marke blicken, wenn beispielsweise ein hoher Ölpreis externe Hilfestellung leistete.

Da drängt es sich heute förmlich auf, einmal zu schauen, wo wir unter dem Strich eigentlich stehen: Wiegen viele Jahre niedriger Inflationsraten schwerer – oder die kurze Phase stark steigender Preise aus der jüngeren Vergangenheit? Genau das versucht unser Chart der Woche aufzulösen. Ausgehend vom Preisniveau bei Einführung des Euro wird der tatsächliche Verlauf der Verbraucherpreise für Deutschland und die Eurozone mittels des harmonisierten Verbraucherpreisindex dargestellt, den auch die EZB als Maß verwendet. Ebenfalls eingezeichnet ist die 2-Prozent-Linie – so hätten sich die Preise entwickelt, wenn sie in jedem Monat genau so stark gestiegen wären, dass sich über jeden 12-Monats-Zeitraum ein Anstieg von 2 Prozent ergeben hätte. Seit Juli 2021 handelt es sich dabei nicht mehr nur um eine Obergrenze, die möglichst nicht erreicht werden soll, sondern um das neue, symmetrische Inflationsziel der EZB.

Tatsächlicher und theoretischer Verlauf des harmonisierten Verbraucherpreisindex seit Einführung des Euro (Ende 1998 = 100)

(Nettoprozentsatz)

Der Chart zeigt die Entwicklung des Preisniveaus in Deutschland und der Eurozone im Vergleich zur 2-Prozent-Zielstellung der EZB seit 1999.
Quelle: Statistisches Bundesamt, ING Economic & Financial Analysis

Tatsächlich halten sich die niedrige Inflation vor allem (aber nicht nur) der 2010er Jahre und der sprunghafte Anstieg seit Ende 2021 in etwa die Waage. Zusammengefasst könnte man sagen: Wir befinden uns, zumindest für Deutschland betrachtet, derzeit auf einem Preisniveau, auf dem wir auch liegen würden, wenn die EZB seit der Einführung des Euro ihr Ziel jeden Monat erreicht hätte – und auf dem Weg hierher waren die Preise stets niedriger, als es bei regelmäßigem Erreichen des Inflationsziels der Fall gewesen wäre.

Gerade aus Deutschland gab es oft harsche Kritik an der Geldpolitik. Inflationär sei sie und würde den Euro zu einer Weichwährung machen. Mit der Entwicklung der jüngeren Vergangenheit sahen sich viele Kritiker bestätigt. Aber angesichts des Verlaufs der letzten 25 Jahre stellt sich doch die Frage: Sollten wir der EZB nicht vielleicht sogar gratulieren? Vergleicht man das aktuelle Preisniveau mit dem bei der Euro-Einführung, hat sie immerhin über einen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert eine Punktlandung hingelegt und den deutschen Verbraucher*innen unterwegs auch noch Geld gespart!

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. So gehört Deutschland in der Eurozone zu den Ländern mit tendenziell eher niedrigeren Inflationsraten. In der Eurozone insgesamt – und für die trägt die EZB ja die Verantwortung – sind die Preise über die letzten 25 Jahre hinweg stärker gestiegen als hierzulande. In einzelnen Ländern liegt der HVPI nicht wie in Deutschland um 65 Prozent höher als bei der Euro-Einführung, sondern um mehr als 80 Prozent, beispielsweise in Spanien, Österreich oder den Benelux-Staaten.

Außerdem dürfte die moderate Preisentwicklung der ersten gut zwei Jahrzehnte Währungsunion auch den einen oder anderen moderaten Tarifabschluss während dieser Zeit begünstigt haben. Die Geldmenge im Portemonnaie der Verbraucher*innen wäre somit der niedrigen Inflation gefolgt – so relativiert sich dann auch die Sichtweise, dass der Inflationsverlauf unterhalb der 2-Prozent-Linie den Haushalten Geld gespart hätte. Und dass es umgekehrt bei plötzlich rapide steigenden Preisen nicht ganz reibungslos funktioniert, gleichermaßen steigende Löhne auszuhandeln, dürften die teilweise mit harten Bandagen geführten Arbeitskämpfe der jüngeren Vergangenheit illustrieren.

Dennoch hilft unsere kleine Rechenübung vielleicht, die Preissteigerungen der letzten drei Jahre etwas einzuordnen: In dem Land, aus dem oft die härteste Kritik an der EZB kam, liegen wir zumindest rechnerisch voll im Kurs.

Autor: Sebastian Franke