Industrielle Rezession in Zeiten der digitalen Revolution
Chart of the Week
Beschäftigungswunder war gestern. Abkühlung am Arbeitsmarkt ist heute. In den letzten Monaten hat sich der deutsche Arbeitsmarkt vom Rückhalt zur Last der Konjunktur entwickelt. In Anbetracht des rasanten Fortschritts, den die künstliche Intelligenz (KI) in den vergangenen Jahren gemacht hat, stellt sich die Frage, ob die KI die Abkühlung am Arbeitsmarkt, sowohl insgesamt als auch insbesondere in der Industrie, abfedern könnte.
Um zu beurteilen, inwiefern KI bestimmte Berufsgruppen beeinflusst und in Zukunft beeinflussen könnte, legen wir die Messung von Pizzinelli et al. (2023) zur Komplementarität von KI, die auf den Untersuchungen zur Exposition einzelner Berufsgruppen gegenüber KI von Felten et al. (2021) aufbaut, zugrunde. In Kombination lassen die beiden Messungen einen Rückschluss darauf zu, inwiefern eine Berufsgruppe von KI beeinflusst werden kann und ob die KI den entsprechenden Beruf selbst ausüben könnte (geringe Komplementarität) oder eher unterstützende Wirkung hätte (hohe Komplementarität).
Eine hohe Exposition gegenüber KI bei hoher Komplementarität impliziert, dass, vorausgesetzt, der Zugang zur Infrastruktur und die Fähigkeiten zum Umgang mit der Technologie sind vorhanden, Produktivitätssteigerungen erwartbar sind. Hohe Exposition bei geringer Komplementarität hingegen impliziert, dass der Beruf einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist, durch KI ersetzt zu werden. In Kombination mit einer geringen Exposition sind unter niedriger Komplementarität hingegen kaum KI-Effekte zu erwarten, unter hoher Komplementarität hingegen ist trotz der Tatsache, dass KI theoretisch einen produktiven Nutzen stiften könnte, nicht mit deutlichen Produktivitätsgewinnen zu rechnen.
Unser Chart of the Week zeigt, dass es durch KI das Potenzial zur Produktivitätssteigerung bei rund 35 Prozent der Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt, beispielsweise bei Verkaufs- oder Verwaltungsberufen sowie in Medizin- und Lehrberufen. Weitere 27 Prozent der Arbeitsstellen weisen eine hohe Exposition gegenüber KI auf bei zeitgleich hohem Potenzial der KI, den Job übernehmen zu können – hier sind zum Beispiel Büro- und Verwaltungsangestellte, Verkaufsberufe, aber auch Autoren, Journalisten sowie Datenbank- und Netzwerkspezialisten betroffen.
Einflussmöglichkeiten von KI
(in % der Gesamtbeschäftigung (bzw. in % der Gesamtbeschäftigung in der Industrie))
In den Messungen wird allerdings nur generative KI berücksichtigt und nicht etwa die Möglichkeit zur Automatisierung durch den Einsatz von Robotern.
Das erklärt, weshalb der Anteil an Jobs in der Industrie, der sich einem hohen Risiko ausgesetzt sieht, von KI übernommen zu werden, mit 5 Prozent deutlich niedriger liegt als der Anteil dieser Stellen in Deutschland insgesamt. Der Anteil der Berufe, die ein großes Potenzial aufweisen, KI-bedingte Produktivitätssteigerungen zu realisieren, liegt hingegen, ähnlich wie auf dem deutschen Arbeitsmarkt insgesamt, bei etwa einem Drittel.
Mit insgesamt mehr als 60 Prozent überwiegt allerdings der Anteil der Industriejobs, in denen die KI bisher kaum Einfluss nimmt – sowohl im positiven als auch negativen Sinne.
In Deutschland verzeichneten zwischen dem 4. Quartal 2019 und dem 2. Quartal 2024 insbesondere jene Berufe Beschäftigungswachstum, bei denen Produktivitätsgewinne durch KI zu erwarten sind. In allen anderen Gruppen war die Beschäftigung rückläufig. Das gibt Hoffnung für einen weiteren Anstieg des Produktivitätswachstum – mit der freundlichen Unterstützung von Zukunftstechnologien – aber nicht unbedingt für mehr Beschäftigungswachstum.
Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor schwierigen Zeiten. Die Rekordbeschäftigung der letzten Jahre war irreführend, da sie nur in wenigen Sektoren stattgefunden hat, und hat weitergehende Investitionen in Produktivitätswachstum verzögert. Es liegt jetzt an Staat, Unternehmen und Arbeitnehmern selbst, die nächste digitale Revolution, KI, nicht zu verschlafen und über Produktivitäts- und nicht unbedingt Beschäftigungswachstum den wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.